Erziehung zu Mündigkeit als Schlüssel in der Extremismusprävention
Mit rund 80 teilnehmenden Lehrerinnen und Lehrern erfreute sich die Fortbildung zu Gefahren von TikTok und ähnlichen Internet-Plattformen am Dienstag 7. Oktober regen Interesses. Ramazan Demir MA und Dr. Nadim Mazarweh gelang es, die teilweise dramatischen Auswirkungen stundenlangen Konsums höchst fragwürdiger Inhalte für muslimische Kinder und Jugendliche anschaulich darzustellen. Fachinspektor Dr. Mazarweh – zugleich seit Jahren Leiter der Extremismusprävention der IGGÖ – ging eher auf den theoretischen Hintergrund aus politikwissenschaftlicher Sicht ein. Durch seine jahrelange Erfahrung konnte er dies mit anschaulichen Beispielen verknüpfen und so für eine gewisse Einordnung beim Erkennen von möglichen Auffälligkeiten im Unterricht sorgen. Vor allem arbeitete er Möglichkeiten der Prävention heraus. Der erfahrene Religionspädagoge und Leiter der Fortbildung am Institut Islamische Religion der KPH Wien/NÖ Ramazan Demir MA vermittelte sehr praxisnah, was Sache ist. Dabei kam ihm seine Erfahrung beim eigenen Bereitstellen von Content in Form aufklärerischer Videoclips als „derimamramazan“ zugute. Andockmöglichkeiten im eigenen Unterricht boten beide Referierenden. Dabei wurde einmal mehr bewusst, dass guter IRU mehr ist als reine Wissensvermittlung – vielmehr ein Ort der Selbstreflexion und Orientierung für ein sinnerfülltes Leben in der Gemeinschaft einer zunehmend pluralen Gesellschaft. Dann bietet er auch eine Art "Immunisierung" vor extremistischen Inhalten.
Start für eine Tour durch alle Bundesländer
Dr. Nadim Mazarweh und Ramazan Demir MA gehen mit diesem Fortbildungsangebot in die Bundesländer. Somit können möglichst alle islamischen Religionslehrer/innen erreicht werden. Besonders wertvoll ist dabei die Möglichkeit des direkten Austausches. Denn die Wortmeldungen aus der Lehrerschaft bieten Gelegenheit voneinander praktisch zu lernen und Unterrichtskonzepte fortwährend zu aktualisieren.
Merkmale extremistischer Gewaltbereitschaft am Beispiel der Charidschiten
Der historische Blick auf die erste sektiererische Abspaltung der islamischen Geschichte, dargeboten von Dr. Mazarweh, bot die Möglichkeit aus der Geschichte Rückschlüsse auf heute zu ziehen. Schließlich finden sich bei den Charidschiten, die sich unter dem Motto „la hukma illa li-llah!“ („Die einzige Herrschaft ist bei Gott!“) in den Wirren der Zeit von Herrschaftsstreitigkeiten rund 25 Jahre nach dem Tod des Propheten Muhammad (ass) gesammelt hatten, bereits alle Ingredienzen für spätere sich außerhalb des muslimischen Mainstreams bewegende gewaltbereite Gruppierungen. Dass diese zunächst von einem hohen Gerechtigkeitsempfinden bestimmt waren und ihre Anhängerschaft gegenüber einer Führungspersönlichkeit (damals Ali, der vierte der Kalifen in direkter Folge von Prophet Muhammad) in scharfe Opposition kippte – all dies lässt sich immer wieder bei Außenseitergruppen beobachten, die für sich den einzigen Wahrheitsanspruch behaupten. Deren Selbstverständnis als „einzig wahre Muslime“ entfaltet in seinem Absolutheitsanspruch und dem Heilsversprechen einzig in dieser kleinen, verschworenen Gemeinschaft gegen die angeblich ignorante Masse letztlich auf der Gewinnerseite zu stehen, durchaus Anziehungskraft. In der Vermessenheit, letztlich als Vollstrecker des Willens Gottes aufzutreten und damit gerade gegen das zentrale Gottesverständnis zu verstoßen, dass kein Mensch sich anmaßen kann, Gottes Weisheit voll zu ermessen und somit „Gott zu spielen“, geben sie ein warnendes Beispiel ab. Wie schnell doch ein Weltverbesserungsanspruch in brutale Gewalt gegen alle Andersdenkenden münden kann! Und wie dieser Fall in religiösen Fanatismus aus ursprünglich hehren Motiven mit all dem verbundenen Unheil ein Phänomen nicht nur im Islam ist… und gerade labile Menschen leicht manipulieren und mitreißen kann.
TikTok – eine Welt, die Erwachsene oft gar nicht kennen
Wer an der Lebenswirklichkeit junger Menschen ansetzen möchte, wie dies ein zeitgemäßer Religionsunterricht fordert, muss sich mit dem vertraut machen, was den Alltag der Jugend bestimmt. Konfrontiert mit einigen Videobeispielen höchst manipulativer Inhalte selbsternannter „Prediger“ war die Betroffenheit bei den Lehrerinnen und Lehrern spürbar, welchem gedanklichen Gift sich viele Schülerinnen und Schüler teilweise täglich stundenlang aussetzen. Eine Welt von schwarz-weiß Denken, in dem kein Platz für Differenzierung bleibt. Und in der eine wesentliche Stärke muslimischer Geisteskultur völlig verdeckt wird: Spirituelle Tiefe und Ambiguitätsvermögen, indem es oft kein „ja“ oder „nein“, sondern ein „Sowohl als auch“ gibt. Im Format kurzer Clips geht es aber immer nur um „Ich habe recht“ mit einer höchst fragwürdigen pseudo-religiösen Legitimation. Und was besonders „streng“ daherkommt, alles andere rigoros ausschließend – das weiß sich bei Jugendlichen auf der Suche nach klaren Antworten in einer komplexen Welt teilweise besonderes Gehör zu verschaffen. Auch hier lockt der Exklusivitätsanspruch, Mitglied einer Gemeinschaft mit „Paradiesgarantie“ zu werden, oft gepaart mit Verschwörungsdenken.
Ramazan Demir verstand es, nicht nur die Augen vor diesen Gefahren zu öffnen, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie im Unterricht möglichst so angesetzt werden kann, dass eine Art „Immunisierung“ vor den Gefahren dieser Art Indoktrination stattfindet. Dabei halfen die eigenen praktischen Erfahrungen im Unterricht. Zuhören zu können und junge Menschen ernst zu nehmen, hilft gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Im Gespräch gelingt es dann oft durch empathisches Nachfragen Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, die Jugendliche in der eigenen Persönlichkeit stärken. Wer gefährliche Inhalte korrekt einordnen und von seriöser Information unterscheiden kann – der wird zugleich zu einem Multiplikator, um gefährlichen Extremismen die Stirn zu bieten. Dazu war eine Auflistung gängiger problematischer Phänomene besonders hilfreich.
Gegensteuern über das islamische Menschenbild und kompetenzorientiertes Unterrichten
Wer diese extremistischen Verirrungen genauer analysiert, erkennt sofort, dass genau hier dann gegenzusteuern ist. Wer diese manipulativen Falschbehauptungen kennt, kann – sogar ohne diese direkt zu benennen! – die Themen des Lehrplans so aufbereiten, dass ein authentisch menschfreundliches und optimistisches Islamverständnis fit macht für ein gutes soziales Miteinander in der Vielfalt von Hintergründen. Das Menschenbild im Islam ist dafür ein Schlüssel, das den Grundkompetenzen zugrunde liegt, wie sie IRU über alle inhaltlichen Anwendungsbereiche hinweg zu vermitteln sucht (siehe https://iru.derislam.at/lehrplan)