Checkliste zum Umgang mit religiöser Literatur

Zu praktischen Glaubensfragen und der Religionsausübung im Islam gibt es eine Fülle an Veröffentlichungen. Bei deutschsprachigen Publikationen handelt es sich meist um Übersetzungen aus anderen Sprachen. Geschrieben wurden diese Bücher mit dem Anspruch, Orientierung im Alltag zu bieten. Teilweise sind es Werke, die schon seit Jahrzehnten immer wieder aufgelegt werden. In vielen muslimischen Haushalten finden sich derartige Bücher, und sie werden meist als eine Art Nachschlagwerk benutzt. Von daher bilden sie oft eine Art Spiegelbild zu Vorstellungen praktischer Fragen der Religionsausübung. Durch mündliche Weitergabe einzelner Aussagen haben diese Werke eine teilweise beträchtliche Wirkungsmacht entfaltet und prägen somit religiöse Auffassungen, Einstellungen und Meinungen, bis hin zu einer allgemeinen Weltsicht.

Religionslehrer/innen und Seelsorger/innen in Österreich kennen diese Literatur zum einen, weil sie vielfach selbst damit mehr oder weniger bewusst aufgewachsen sind. Zum anderen werden sie auch durch Rückfragen von Schüler/innen und anderer Personen damit konfrontiert.

Fragen tauchen vor allem dort auf, wo den Büchern anzumerken ist, dass sie in einem bestimmten Kontext entstanden sind, der sich nicht mit der heutigen Lebenswirklichkeit deckt. In den Büchern findet sich häufig neben der reinen Sachinformation, etwa zum rituellen Ablauf einer Gebetswaschung eine Einbettung dieser Information in einen Text, der auch persönliche Meinungen des Autors/der Autorin wiedergeben kann. Auch in der Textgattung religiöser Handbücher lässt sich somit oft ein zeitlicher und lokaler Hintergrund erkennen.

Bei der Herausbildung der islamischen Theologie (Fiqh) wurde dieses Phänomen von Beginn an berücksichtigt. So ist es allgemein bekannt, dass sich Fragen zur Religionspraxis je nach Zeit und Ort, sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern können und die Antworten darauf – selbstverständlich auf Basis der religiösen Quellen – diese Umstände mitreflektieren. Heute sprechen wir von der Notwendigkeit der Kontextualisierung.

Gerade Personen, die mit der Vermittlung von Religion betraut sind, sei es in der Seelsorge oder im islamischen Religionsunterricht stehen also vor der Aufgabe, religiöse Literatur vor diesem Hintergrund zu betrachten. Es gilt herauszufiltern, wo der Gehalt allgemeingültiger Aussagen liegt und wo sich die spezielle Perspektive eines örtlichen oder historischen Hintergrunds erkennen lässt. Welche unterschwelligen Meinungen werden transportiert? Wo haben Diskurse der Entstehungszeit mehr oder weniger offensichtlich Eingang in den Text gefunden? Ist vielleicht sogar eine gewisse politische Ausrichtung spürbar? Mit derartigen Fragen lässt sich Bewusstsein dafür schaffen, dass der Text auch als eine Art Zeitdokument zu verstehen ist.

Vor diesem Hintergrund ist jeweils sorgfältig abzuwägen, inwieweit ein Buch im Unterricht genutzt oder in der Seelsorge unmittelbar empfohlen werden kann. Hier sei ausdrücklich nicht nur die Rede davon, ein Buch oder Teile daraus als Lektüre zu empfehlen oder direkt zu verwenden. Es geht auch darum, dass nur aus dem Kontext der Entstehung verständliche Haltungen und Meinungen nicht unreflektiert im Unterrichtsvortrag/der Seelsorge weitergetragen werden können – vor allem wenn diese im heutigen gesamtgesellschaftlichen Kontext befremdlich wirken müssen. Autorinnen und Autoren sind immer auch „Kinder ihrer Zeit“. Eine völlig neutrale Darstellung ist von daher Illusion.

Vor allem wenn es sich hier um Inhalte handeln sollte, die klar im Widerspruch zu allgemeinen Unterrichtsprinzipien oder den Zielbestimmungen österreichischer Schule (Verfassungskonformität) stehen, wäre eine Weitergabe höchst problematisch!

Religion ist gleichzeitig im Denken und Fühlen vieler Menschen – auch der Schüler/innen – eng mit einem Wahrheitsanspruch verknüpft. Hier ist ein Zugang gefragt, der die unverrückbaren Glaubensüberzeugungen in einer Weise verinnerlicht, dass hiervon ausgehend gedankliche Beweglichkeit möglich ist, menschliche Auslegung und kontextbezogene religiöse Praxis als solche zu erkennen und zu reflektieren.

In muslimischen Communities ist ein hohes Maß an Respekt vor religiösen Autoritäten anzutreffen. Von daher besteht häufig Scheu, die Aussage einer allseits respektierten Persönlichkeit zu hinterfragen. Nicht zuletzt mischt sich darin auch die Sorge, an eigenen Glaubensüberzeugungen zu rütteln und religiösen Halt zu verlieren. In der pädagogischen und seelsorgerischen Arbeit ist darauf Bedacht zu nehmen. Dazu kann dienlich sein aufzuzeigen, dass es bei der Notwendigkeit der zeitlichen Einordnung um ein Phänomen geht, von dem in gleichem Maße andere – vielleicht sogar sehr berühmte „westliche“ Autorinnen und Autoren betroffen sein können.

Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass viele praktizierende Musliminnen und Muslime einen starken Druck wahrnehmen, was die Ausübung ihrer Religion betrifft. Somit kann sich die Zurückhaltung gegenüber einem kritischen Umgang mit religiöser Literatur noch steigern, weil es darum zu gehen scheint, die eigene Religion nicht „zu verraten“ und zeitgeistigen Meinungen „nach dem Mund zu reden“. Somit ist gerade bei religiöser Literatur besonderes Fingerspitzengefühl gefragt, zu einem kritisch-reflektierten Umgang einzuladen, ohne dabei Verwirrung zu stiften. Vertrauen in die eigene Glaubensgewissheit gilt es so zu fördern, dass gleichzeitig Offenheit im Denken möglich ist.

Hilfreich ist auch, das Prinzip „Was du nicht willst, dass man dir tu – das füg‘ auch keinem anderen zu“ anzuwenden. Denn häufig geht es um Darstellungsweisen, die Musliminnen und Muslime an Texten kritisieren, die über ihre Religion und sie als Gläubige geschrieben wurden!

Die im Lehrplan NEU formulierten sieben Grundkompetenzen, die durch den Islamischen Religionsunterricht gefördert werden sollen, bieten hier einen guten Rahmen, indem sie beim Wert des Vertrauens (Selbsterkenntnis wie Gottvertrauen) beginnen und immer wieder darauf zurückführen. Siehe auch: Schulamt | IGGÖ (derislam.at) Die Notwendigkeit der Kontextualisierung wird beim „Umgang mit Quellentexten“ ausdrücklich angesprochen und Pluralitätsfähigkeit angestrebt. Selbstverständlich ist die Glaubenslehre der IGGÖ eine wichtige Referenz in Bezug auf jenen religiösen Halt, der das Weiterdenken auf dieser Basis ermöglicht.

Die folgende Checkliste soll dabei unterstützen, Werke in ihrer Wirkung besser zu reflektieren. Und sie ist auch gedacht, bei der Materialauswahl im IRU und dem Verfassen eigener Texte für den Unterricht zu sensibilisieren.

Problematisch bis hin zum Überschreiten einer „roten Linie“ ist, wenn der Autor/die Autorin:

  • Selektiv (negative) Informationen über eine andere Religion/deren Gläubige auswählt, so dass ein einseitig abwertender Eindruck entsteht
  • Die Ebene der Sachlichkeit verlässt und Informationen verbreitet, die so nicht von den dermaßen dargestellten Gläubigen der beschriebenen Religion befürwortet würden, also die Innensicht der behandelten Religion bewusst ignoriert
  • Die andere Religion/Weltanschauung in schiefen Vergleichen benutzt, um im Kontrast zum Islam die eigene Religion besonders leuchtend positiv darzustellen.
  • Werte so vermittelt, als würden diese nur von Musliminnen und Muslimen gelebt
  • Handlungsanweisungen tätigt, die prinzipiell vor dem Umgang mit Menschen anderer Religion/Weltanschauung warnen
  • Gewalt gegen Andersgläubige rechtfertigt oder sogar befürwortet

Problematisch bis hin zum Überschreiten einer „roten Linie“ ist, wenn der Autor/die Autorin:

  • Auslegungstraditionen folgt, die nach einem paternalistischen Weltbild den Mann als „von Natur aus“ überlegen und damit als Führer der Frau sehen
  • Ausgehend von der perzipierten „Natur der Frau“ ein einseitiges Rollenverständnis propagiert, das eine Frau einzig auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festlegt
  • Einseitige und einschränkende Rollenzuweisungen im Gewand von „Schutz“ und „Fürsorge“ darstellt und damit Frauen bevormundet
  • Frauen fundamentale Rechte abspricht oder religiösen Druck ausübt, diese nicht wahrzunehmen (Berufstätigkeit, Reisefreiheit, Erlangen von Führungspositionen etc.)
  • So sehr auf den Unterschied zwischen vorislamischem Unrecht und islamischen Errungenschaften für die Muslimin eingeht, dass bestehende Phänomene von Schlechterstellung der Frau ignoriert oder geleugnet werden
  • Österreichisches Recht verächtlich zu machen, sucht und/oder zu dessen Missachtung aufruft
  • Frauen und Mädchen sexualisiert, etwa einseitig als mögliche „Verführerin“ des Mannes und damit gefährlich darstellt und in Folge strenge Geschlechtertrennung propagiert

Problematisch bis hin zum Überschreiten einer „roten Linie“ ist, wenn der Autor/die Autorin:

  • Die eigene muslimische Richtung/Denkschule als „einzige Wahrheit“ propagiert
  • Andere Richtungen oder Personen als vom rechten Glauben abgekommen hinstellt oder gar als „in der Hölle“ landend verurteilt, also „Tekfir“ betreibt
  • Verbote ausspricht, sich mit Menschen außerhalb des eigenen Kreises zu treffen
  • Rassistische oder abwertende Haltungen gegenüber „People of Colour“ äußert
  • Hass und Hetze so weit gehen, dass ein Aufruf zu Gewalt daraus gelesen werden könnte

Problematisch bis hin zum Überschreiten einer „roten Linie“ ist, wenn der Autor/die Autorin:

  • Die islamische Geschichte nach dem Tod des Propheten Muhammad ohne Verweis auf Schattenseiten glorifiziert und in einer strikten Nachahmung gewisser verklärter Bilder eine theokratische Regierungsform anstrebt
  • Angst schürt, einem anderen politischen Modell (Demokratie) zu folgen
  • Über Aspekte von „Recht und Gerichtsbarkeit“ und insbesondere „Strafrecht“ so schreibt, als müsse das geltende Recht des jeweiligen Landes ignoriert werden
  • Verschwörungstheorien benutzt, um die eigene Weltsicht scheinbar zu legitimieren

  • Schwarz – Weiß Denken als undifferenzierte und unsachliche Vereinfachung
  • Unwissenschaftlicher Einsatz von Zitaten (keine Quellenangabe, selektives Suchen „passender Aussagen“, Ignorieren des ganzen Spektrums von Aussagen zur Thematik)
  • Willkürlicher Gebrauch von Belegstellen aus Koran und Sunna zur Legitimierung der eigenen Aussage, auch wenn diese Passagen eigentlich nicht zum Behaupteten passen oder parallel andere Koranstellen berücksichtigt werden müssten
  • Ausnutzen oder Behaupten von Autorität, um andere Meinung hintanzuhalten
  • Eine negative Projektionsfläche gegenüber „dem anderen“ zu schaffen, um das „eigene“ umso glänzender erscheinen zu lassen durchschauen („der Westen“ und „der Islam“)
  • Herabwürdigende Darstellungen
  • Geschichtsklitterung als Mittel die eigene Weltsicht scheinbar zu stützen
  • Gewaltaufrufe, auch wenn sie subtil vermittelt werden

Diese Checkliste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Es geht vor allem darum, für die Thematik an sich zu sensibilisieren.

Wien, Juni 2023 – Schulamt der IGGÖ – Carla Amina Baghajati

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